Rechtsstand: 01.05.2022

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Artikel 62

( 1 ) Zur Erprobung neuer Ordnungen, Arbeits- und Organisationsformen kann die Landessynode mit verfassungsändernder Mehrheit Erprobungsgesetze beschließen, die von einzelnen Vorschriften der Grundordnung abweichen. Das Erprobungsgesetz kann vorsehen, dass zur Ausführung eine Rechtsverordnung des Landeskirchenrates erlassen wird; zu Strukturregelungen, die für einzelne Kirchenbezirke, Teile von Kirchenbezirken oder Gemeinden getroffen werden sollen, kann eine Rechtsverordnung des Evangelischen Oberkirchenrates erlassen werden. Das jeweilige Erprobungsgesetz sowie ausführende Regelungen treten spätestens nach Ablauf von sechs Jahren außer Kraft. Eine Verlängerung ist einmalig, längstens um weitere drei Jahre möglich.
( 2 ) - aufgehoben -
( 3 ) Der Evangelische Oberkirchenrat unterrichtet die Landessynode und den Landeskirchenrat über die Erfahrungen bei der Erprobung der zugelassenen Arbeits- und Organisationsformen.
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A. Erprobung als Ausnahmeregelung

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Artikel 62 ist eine Ausnahmeregelung von Art. 59 Abs. 3 GO, der eine »Verfassungsdurchbrechung« grundsätzlich verbietet.1# Er bietet die Möglichkeit, neue Ordnungen, Arbeits- und Organisationsformen zunächst für einen bestimmten Zeitraum in der Praxis auszuprobieren, bevor die Entscheidung über eine eventuelle Grundordnungsänderung als Dauerlösung getroffen wird. Insofern dient die Bestimmung dem Schutz der Grundordnung vor zu häufigen und übereilten Änderungen.
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Systematisch sind die bisherigen Bestimmungen über Erprobungsgesetze und die Erprobungsverordnungen an dieser Stelle im Titel über die Gesetzgebung der Landeskirche zusammengefasst worden.
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B. Erprobungsgesetze

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Absatz 1 entspricht in der Sache dem früheren § 132 Abs. 4 GO. Er ermöglicht durch ein Gesetz der Landessynode, neue Arbeits- und Organisationsformen auf allen Ebenen der Landeskirche zur Erprobung freizugeben, einschließlich der Landeskirche selbst.2# Diese Möglichkeit wurde erst durch das Zwölfte Kirchliche Gesetz zur Änderung der Grundordnung vom 21. April 19963# eingeführt. Bis dahin waren nur Erprobungsverordnungen des Landeskirchenrates für die Gemeinden und Kirchenbezirke vorgesehen. Die Notwendigkeit von Erprobungsgesetzen ergab sich damals als Konsequenz aus dem gleichzeitigen Verbot der Verfassungsdurchbrechung.
4
Das Erprobungsgesetz bedarf der verfassungsändernden Mehrheit nach Art. 59 Abs. 2 GO.4# Seine Laufzeit ist maximal auf neun Jahre begrenzt. Nach Ablauf dieser Zeit muss die Erprobung entweder beendet5# oder in eine endgültige Regelung6# überführt werden.
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Durch das Kirchliche Gesetz zur Änderung der Grundordnung des Leitungs- und Wahlgesetzes sowie weiterer Gesetze vom 19. Oktober 20167# wurde in Absatz 1 der Satz eingefügt, dass der Landeskirchenrat zur Ausführung von Erprobungsgesetzen Rechtsverordnungen erlassen kann. Für diese ist eine qualifizierte Mehrheit nicht vorgeschrieben.8#
5a
Mit dem Kirchlichen Gesetz zur Änderung der Grundordnung 2022 und weiterer Gesetze9# wurde Art. 62 Abs. 1 Satz 2 GO ergänzt. Es besteht nun auch die Möglichkeit, dass der Evangelische Oberkirchenrat in Rechtsverordnungen Strukturregelungen, die nur einzelne Kirchenbezirke oder Kirchengemeinden oder Teile von diesen betreffen, erlassen kann. Im Gegensatz zur ansonsten geltenden Praxis, dass Rechtsverordnungen generell-abstrakt für den gesamten Bereich der Landeskirche gelten, kann so auf den genannten Ebenen im konkreten Fall durch Rechtsverordnungen eingewirkt werden, um damit passgenaue Normsetzung in einem begrenzten geographischen Raum zu generieren10#. Auch bei diesen Regelungen handeln es sich um Erprobungsrecht, das gemäß Art. 62 Abs. 1 Satz 3 GO nach einer gewissen Zeit außer Kraft tritt.
6
Eine inhaltliche Begrenzung für Erprobungsgesetze besteht durch die weite Formulierung »neue Ordnungen, Arbeits- und Organisationsformen« praktisch nicht. Eine Grenze ergibt sich aber unter dem Gesichtspunkt der gesetzgeberischen Zuständigkeit der Landessynode, insbesondere muss sie auf das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden Rücksicht nehmen, das diesen durch Art. 5 Abs. 2 GO11# garantiert ist. Keine Regelungskompetenz der Landessynode für Erprobungsgesetze besteht im Bereich des kirchlichen Arbeitsrechts, soweit die Zuständigkeit dafür nach Artikel 61 GO der Arbeitsrechtlichen Kommission übertragen worden ist.
6a
Art. 62 Abs. 2 GO sah bisher die Möglichkeit vor, dass der Landeskirchenrat Erprobungen durch eine Rechtsverordnung einführen kann. Hiervon wurde in der Praxis kein Gebrauch gemacht, so dass die Regelungen mit dem Kirchlichen Gesetz zur Änderung der Grundordnung 2022 und weiterer Gesetze aufgehoben wurde.12#
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C. Informationspflicht

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Die Informationspflicht des Evangelischen Oberkirchenrates nach Absatz 3 dient der laufenden Kontrolle über die Ergebnisse des Erprobungsprozesses. Sie soll ermöglichen, auf die gemachten Erfahrungen zeitnah zu reagieren.

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1 ↑ Siehe dazu: Art. 59 Rdnr. 6.
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2 ↑ Als Beispiel dafür siehe: Kirchliches Gesetz zur Erprobung neuer Zuständigkeiten für die Rechnungsprüfung in der Evangelischen Landeskirche in Baden vom 18. April 2008, GVBl. S. 120 (RS Baden Nr. 160.110).
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3 ↑ GVBl. S. 77 (damals § 132 Abs. 3).
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4 ↑ Siehe: Art. 59 Rdnr. 5.
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5 ↑ Ein Beispiel für eine gescheiterte Erprobung, die zu keiner Dauerlösung geführt hat, ist das Modell einer »geschwisterlichen« Leitung durch mehrere Personen als Alternative zur einzelnen Dekanin bzw. zum einzelnen Dekan durch den Kirchenbezirk Wiesloch; vergl.: Verhandlungen der Landessynode der Evangelischen Landeskirche in Baden, Ordentliche Tagung vom 19. bis 22. April 1996, S. 64.
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6 ↑ Beispiele für erfolgreiche Erprobungen sind die Erprobungsgesetze zur Strukturreform in den Großstädten Mannheim, Heidelberg, Karlsruhe, Pforzheim und Freiburg. Siehe dazu die Gesetze in: GVBl. 2009, S. 153.
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7 ↑ GVBl. S. 226.
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8 ↑ Durch dieses Gesetz wurden im Übrigen die früheren Absätze 2 und 3 in einem Absatz zusammengeführt.
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9 ↑ Kirchliches Gesetz zur Änderung der Grundordnung 2022 und weiterer Gesetze vom 29. April 2022, GVBl., Teil I, Nr. 39, S. 96.
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10 ↑ Vorlage des Landeskirchenrates, Verhandlungen der Landessynode, Ordentliche Tagung vom 26. bis 30. April 2022, S. 38 ff. (S. 40).
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11 ↑ Siehe: Art. 5 Rdnr. 2.
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12 ↑ Kirchliches Gesetz zur Änderung der Grundordnung 2022 und weiterer Gesetze vom 29. April 2022, GVBl., Teil I, Nr. 39, S. 96.